J. Chr. Denner · Aktuelle Situation · Deutsches System · Oehler-Mechanik · Wiener Klarinette · Französisches System · Reform-Boehm-Klarinette · Tradition · Fortschritt
Bauweisen und Griffsysteme
Denners Erfindung
Johann Christoph Denners Erfindung (um 1690 n. Chr. im deutsch-fränkischen Nürnberg) breitete sich im 18. und 19. Jahrhundert, für damalige Verhältnisse rasch, in ganz Europa aus.
Klang und Spielbarkeit wurden dabei durch die ortsansässigen Instrumentenbauer und Instrumentalisten fortlaufend weiterentwickelt, unter Einbeziehung aller Parameter des Instrumentes: Mundstück, Blatt, Bohrungsverlauf, Anordnung der Tonlöcher, Material des Instrumentenkorpus.
Von besonderer Bedeutung war auch die ständige Weiterentwicklung – zunächst als Erweiterung – des Klappenmechanismus, um vorerst überhaupt einmal alle Töne der chromatischen Tonleiter greifen zu können. Zugleich wurde dabei versucht, Klang und Intonation der einzelnen Töne zu optimieren sowie ergonomische, herstellungstechnische und mechanisch-funktionale Aspekte zu berücksichtigen. Das Ergebnis waren unterschiedliche Konstruktionsweisen bei Mundstück, Blatt, Bohrung, Tonlöchern (Durchmesser, Abstände, Anordnung), Material und Klappenmechanismus. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier je nach Werkstatt und Klarinettist viele unterschiedliche Lösungsansätze, die nebeneinander Verwendung fanden. Allerdings bildeten sich nach und nach regional verschiedene Typisierungen heraus.
Aktuelle Situation
Heute, und schon seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert prägend, kennen wir zwei grundverschiedene Bauweisen: In der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich ein sogenanntes deutsches System, in allen anderen Ländern der Welt ein sogenanntes französisches System. Synonym werden sie heute auch nach ihren vermeintlichen Wegbereitern Oskar Oehler und Theobald Boehm bezeichnet. Beide unterscheiden sich am deutlichsten im Hinblick auf die Bohrung des Korpus und die Konstruktion des Klappenmechanismus. Auch sind sie mit verschiedenen Mundstücken (und Blättern) zu spielen und die Griffweise ist bei einigen Tönen unterschiedlich. (Grifftabellen gibt es hier.)
Kontroverse
Zwischen den Befürwortern des einen und des anderen Systems kommt es bisweilen zu Diskussionen, die, vorsichtig gesagt, wenig Sympathie füreinander erkennen lassen. Warum? Offenbar sind beide Systeme vital im Gebrauch, keines ist in jeder Hinsicht optimal, und sie bedienen unterschiedliche Interessen – aus der Tradition erwachsende, aus dem Repertoire erwachsende, aus den Klangidealen der Klarinettisten und Orchester erwachsende. Dem anderen System irgendwelche Schwächen vorzuwerfen hieße, den Balken im eigenen Auge zu übersehen (und, ganz nebenbei, die prinzipielle Verbesserungsfähigkeit jedes Systems in Frage zu stellen). Und ist es in einer immer stärker vernetzten Welt nicht schön, wenn, die Vielfalt respektierend, sich jeder die für ihn genehmste Alternative aussuchen kann? Die Mannigfaltigkeit der heute national und international erfolgreichen Solisten und Orchestermusiker spricht doch Bände!
Das deutsche System
... wird noch heute geprägt durch Oskar Oehler (Berliner Klarinettist, 1858–1936). Bei traditionellen deutschen Klarinetten aus vielen renommierten Werkstätten geht das Klappendesign unverändert auf Oskar Oehler zurück. Als seine unmittelbaren Nachfolger dürfen Friedrich Arthur Uebel (1888–1963; Schüler und Mitarbeiter von Oskar Oehler) sowie Fritz Wurlitzer (Vater; 1888–1984) und Herbert Wurlitzer (Sohn; 1921–1989) gelten. Besonders in Erinnerung ist Oskar Oehler aber auch, weil er zu seiner Zeit eine Verbesserung von Klang und Intonation des Gabelgriffs der – notierten – Töne b und f’’ für erforderlich hielt und daher, mit Friedrich Arthur Uebel gemeinsam, einen speziellen Klappenmechanismus entwickelte, der am Unterstück der (deutschen) Klarinette eine blinde Griffplatte statt eines offenen Tonlochs für den rechten Mittelfinger vorsieht, den sog. Oehler-Mechanismus (1905 Gebrauchsmusterschutz). Daher wird das deutsche Griffsystem auch als Oehler-System bezeichnet. Zutreffend ist diese Bezeichnung aber immer nur dann, wenn eine deutsche Klarinette diese Griffplatte mit spezieller Mechanik am Unterstück aufweist.
Erläuterung zur Oehler-Mechanik
Bei dem mit Null (Gabelgriff) gegriffenen f'' bzw. b folgt auf ein geöffnetes Tonloch (unter dem rechten Mittelfinger) ein geschlossenes Tonloch (unter dem rechten Ringfinger) und dann folgen wiederum nur geöffnete Tonlöcher. Das kann akustisch nachteilig sein. Durch den Oehler-Mechanismus ändert sich an den Griffen nichts. Aber der blinde Griffdeckel, unter dem kein Tonloch ist, und eine spezielle Mechanik mit einem weiteren Tonloch an der rechten Seite des Instruments führen dazu, dass beim mit Null gegriffenen f'' bzw. b eben nicht ein Tonloch unter dem rechten Mittelfinger geöffnet ist, sondern ein anders dimensioniertes und weiter unten rechts am Korpus angebrachtes Tonloch.
Allerdings ist damit der Gabelgriff-Effekt (geschlossene Tonlöcher – offenes Tonloch – geschlossenes Tonloch – offene Tonlöcher) nicht beseitigt. Denn das vom rechten Ringfinger geschlossene Tonloch befindet sich weiter unten als das von der zusätzlichen Klappe geöffnete, seitliche Tonloch. Aber Oehler und Uebel konnten wohl mit ihrer mechanischen Konstruktion akustisch befriedigendere Ergebnisse erzielen als ohne. Freilich beweisen die Wiener Klarinetten und viele andere deutsche, Nicht-Oehler-Klarinetten, dass es nicht dieser komplizierten Mechanik bedarf, um akustisch gleichwertige Lösungen für den 4er- und den Gabelgriff beim f'' und b zu erzielen.
Die verbreitete Bezeichnung Voll-Oehler hat mit Oskar Oehler übrigens nur bedingt zu tun. Zwar bezeichnet sie die deutsche Klarinette mit besagtem Griffdeckel, jedoch zusätzlich mit der Bechermechanik zur bedarfsweisen Intonationsverbesserung von – notiert – tief e (und f). Die Bechermechanik stammt aber nicht von Oskar Oehler, sie kam erst später auf (so in den Katalogen der Fa. F. A. Uebel erstmals in den 1940er Jahren).
Die Wiener Klarinette
Die in Österreich, speziell in Wien, (erst) seit Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlichen Klarinetten deutschen Typs unterscheiden sich von ihren Schwestern in Deutschland durch weitere und zylindrischere Bohrung, andere Mundstück-Bahnen (engere Öffnung und längerer Ausstich) und daran angepasste (= dickere) Blätter sowie durch den Verzicht auf den Oehler-Mechanismus. Dazu kommt eine andere Trillerklappe am Oberstück (a'/b'-Triller statt f'/g'-Triller), sowie eine e'-Resonanzklappe zwischen den Tonlöchern für den linken Zeige- und Mittelfinger (wo sonst bisweilen die doppelte c-Klappe Platz findet; siehe dieses Foto). Man spricht hier von der Wiener Klarinette, da sie besonders in der österreichischen Donaumetropole verwurzelt ist. Die Griffweisen der deutschen und Wiener Klarinetten sind jedoch identisch. Letztlich ist die Wiener eine Sonderform der deutschen Klarinette, dem böhmisch-wienerischen Klangideal verpflichtet.
Das französische System
... wird häufig mit Theobald Boehm (Flötist, Instrumentenbauer; 1794–1881) in Verbindung gebracht, so dass dafür die Bezeichnung »Boehm-Klarinette« gebräuchlich (aber irreführend) ist. Zwar geht die Konstruktionsidee auf Theobald Boehm und seine Querflöten zurück, tatsächlich stammt die konkrete Ausführung jedoch von Hyacinthe Eléonore Klosé (1808–1880) und Auguste Buffet (1789–1864), patentiert im Jahr 1843. (Bisweilen wird die modernere Schreibweise Böhm verwendet, die aber weder Boehms Grabsteininschrift noch dem internationalen Brauch gemäß ist.)
Die Reform-Boehm-Klarinette
Der Vollständigkeit halber sei die Reform-Boehm-Klarinette erwähnt. Die Fa. H. Wurlitzer reklamiert sie zwar für sich, tatsächlich wurde sie aber von Ernst Schmidt (Mannheim, 1905/1912) entwickelt: zunächst gemeinsam mit Louis Kolbe und Oskar Neidhardt, erst später mit dem jungen Fritz Wurlitzer (Vater von Herbert Wurlitzer, Namensgeber der heutigen Manufaktur in Neustadt an der Aisch).
Sie sollte Vorteile des damaligen deutschen und französischen Systems kombinieren und Schwächen beider Systeme vermeiden. Einige konstruktive Anregungen wurden und werden auch bei anderen Klarinettentypen heute (wieder) aufgegriffen. Zu Details verweise ich auf zwei Beiträge auf musiktreff.info mit weiteren Nachweisen:
Von der Unsterblichkeit deutscher Traditionen
Die von Oskar Oehler bis 1936 begründete Bautradition gilt noch heute in Deutschland vielen als das Maß der Dinge. Dabei wird die Werkstatt »H. Wurlitzer« (Neustadt an der Aisch) als Referenz genannt, von der – immer noch – sehr viele meinen, es gäbe keine bessere in Deutschland. Indes gibt es durchaus weitere namhafte Manufakturen, welche die deutsche Bautradition ebenso beherrschen bzw. die bei Fritz (1888–1984, Vater) und Herbert (1921–1989, Sohn) Wurlitzer und andernorts gewonnenen Erfahrungen im eigenen Klarinettenbau mit eigener Kunstfertigkeit umsetzen und exzellente Instrumente herstellen.
Seit den 1990er Jahren konnte sich eine Anzahl Hersteller konkurrierend neben der Marke H. Wurlitzer etablieren. Ich nenne sie gerne Premium-Hersteller der traditionellen deutschen Klarinette. Dazu zähle ich: Harald Hüyng (Düsseldorf), Wolfgang Dietz (Neustadt an der Aisch), Martin Foag (Hafenhofen in Schwaben), Leitner & Kraus (Neustadt an der Aisch) sowie Rolf Meinel (Wernitzgrün), die eng der Wurlitzer-Tradition folgend hochwertige Klarinetten fertigen.
Schließlich wurde nach mehrjähriger Produktionsunterbrechung 2010 auch die Marke F. A. Uebel mit neu entwickelten Klarinetten wiederbelebt – unter Berufung auf den gleichnamigen Firmengründer. Ob Klarinetten aus dortiger Fertigung zum Premium-Segment zählen, wird sich noch erweisen müssen.
Um die zweite Jahrtausendwende traten Akteure in Erscheinung, die eigene Wege gehen und sich bewusst auch die Erfahrungen und Erfindungen historischer Klarinettenhersteller zu eigen machen. Besonders erfolgreich und präsent zeigt sich dabei die in den 1990er Jahren von Werner Schwenk und Jochen Seggelke in Bamberg gegründete Werkstatt (heute: Seggelke Klarinetten), die, auch der deutschen Klarinettentradition verpflichtet, konstruktiv-kreativ eigene Wege beschreitet und zudem Nachbauten historischer Klarinetten auf höchstem Niveau anbietet. Gerold Angerer (Fritzens in Tirol) verlässt mit einem sehr individuellen Klarinetten-Design ebenfalls die ausgetretenen Wurlitzer-Pfade und findet dabei viel Zuspruch. Florian Köck hat im Sommer 2023 eine eigene Produktion und Werkstatt in Wien eröffnet; man darf gespannt sein.
Der Fortschritt
Sowohl für das französische als auch für das deutsche (und Wiener) System haben sich Instrumentenbauer gefunden, die Überkommenes in Frage stellen und von den gebräuchlichen Konstruktionen abweichen – und z. B. Boehm und Oehler / französisch und deutsch einander annähern oder in Vergessenheit geratene Patente und Problemlösungen früherer Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts nach dem heutigen Technik- und Erkenntnisstand in ihre Konstruktionen einbeziehen.
Denn auch wenn zwei Klarinettensysteme den Markt (inter)national dominieren, so bieten doch beide in ihrer jeweils traditionellen Bauweise nicht für alle Problemstellungen des Klarinettenbaus ideale Lösungen. Zumal es völlig kompromissfreie Lösungen im Klarinettenbau, wahrscheinlich im Musikinstrumentenbau überhaupt, nicht geben kann.
CLEX
Die Entwicklung der Klarinette ist auch 330 Jahre nach ihrer Erfindung keineswegs abgeschlossen, sondern ganz offenbar zu neuer Blüte erwacht!
Jüngstes und augenfälligstes Beispiel ist die in fränkisch-schweizer Kooperation entstandene Kontrabassklarinette neuen Typs: CLEX – Contrabassclarinet extended, die mechatronisch unterstützt funktioniert. Mich erinnert dieser Entwicklungsschritt an die wegweisenden Schritte der mechanischen Inventionen aus dem 18. Jahrhundert. Fotos dazu hier und mehr Informationen hier sowie hier.